Am 09.07.2019 erschien der Artikel „Angst vor Versorgungskatastrophe: Die vorgeschlagenen Pflegeuntergrenzen in Thüringer Krankenhäusern stoßen nicht überall auf Begeisterung“ auf der Vorderseite der OTZ, auch die Meinungskolumne widmete sich dieses Thema.
Ich bin die Übeltäterin, die auf dem SPD-Landesparteitag im März die Forderung eines Pflegeschlüssels von 1:4 durchgesetzt hat.
Ich bin seit über 30 Jahren in der Pflege tätig. Als Krankenschwester und Pflegedienstleitung weiß ich, dass in der Pflege die personelle Ausstattung überlebenswichtig ist. Eine gute Hochleistungsmedizin braucht eine gute pflegerische Ausstattung. Auf eine moderne PPR (Pflegepersonal-Reglung) konnten sich die Vertragsparteien nicht einigen. Die PPR wäre ein gutes Instrument für die Alten- und Krankenpflege gewesen. Seitdem man 2004 die Fallpauschalen verbindlich machte, wurden in den Kliniken bundesweit 60.000 Stellen in der Pflege weggekürzt. In den Fallpauschalen war die Pflege miteingerechnet, durch den Abbau von Pflege-Stellen konnte man also Gelder umwidmen oder als Gewinn einbehalten.
Für die Klinikleitungen war der Patient zu einer eierlegenden Wollmilchsau geworden. Nicht der Mensch, sondern die Gewinnmaximierung stand im Vordergrund.
Zum Neujahr 2019 trat ein Gesetz von Herrn Spahn in Kraft, wonach jede neue Pflege-Stelle im Krankenhaus refinanziert werden kann. In der Altenpflege dagegen ist die Lage schwieriger, denn die Pflegeversicherung ist lediglich eine Teilkasko-Versicherung. Im Altenheim und in der Ambulanten Pflege müssen Pflegebedürftige, Angehörige oder das Sozialamt den sogenannten „Eigenanteil“ entrichten, in Thüringen liegt die Höhe zwischen 700 € und 1.800 € monatlich, in der Stadt ist es meistens teurer als auf dem Land. Und wie sichert man sich den Wettbewerbsvorteil eines niedrigen Eigenanteils, ohne die eigenen Gewinnvorstellungen zu gefährden? Natürlich, indem man so wenig Pflegekräfte wie möglich beschäftigt, und diese möglichst wenig bezahlt.
Wie sieht also der Alltag in der Thüringer Altenpflege aus? Im Altenheim werden im Frühdienst 30 Bewohner durch eine Pflegefachkraft und zwei Pflegehilfskräfte betreut, im Spätdienst durch eine Pflegefachkraft und eine Pflegehilfskraft. Dabei kommen heute in der Regel nur Menschen mit hohen Pflegegraden ins Altenheim: Bewohner, die körperlich stark eingeschränkt oder psychisch stark auffällig sind, oder die stark an Demenz leiden. Durch die dünne Besetzung reduziert sich selbst die Pflege dieser Schwerstbetroffenen auf das allernotwendigste: Waschen, ankleiden, essen und trinken. Nach dem Prinzip „Schlucken sie jetzt, kauen können sie später“. Besser schlecht versorgt als gar nicht versorgt?
In der ambulanten Pflege haben Pflegekräfte bis zu 30-45 Patientenkontakte pro Tour: Also im Durchschnitt acht Minuten, um die Wohnung aufzuschließen, die Pflegebedürftige zu begrüßen, die Pflege durchzuführen, sich zu verabschieden, und sich zur nächsten Wohnung zu begeben. Ob in der Stadt oder auf dem Land. Wie viel Zeit darf man sich dann für das Duschen oder für einen Verbandswechsel einplanen? Noch unattraktiver wird die ambulante Pflege durch die weit verbreiteten geteilten Dienste, also am gleichen Tag von 06:00 bis 11:00 Uhr und dann wieder von 16:00 bis 20:00 Uhr arbeiten – selbst dann, wenn man kleine Kinder hat.
Man arbeitet also unter recht schweren Bedingungen, und das häufig für die Pflege-Mindestlohn von 10,55 € pro Stunde, trotz der dreijährigen Berufsausbildung und der Verantwortung für Menschenleben. Kein Wunder also, dass die verbesserten Personaluntergrenzen im Krankenhaus eine Sogwirkung auf die Altenpflege entfalten. Die Tatsache aber, dass viele Arbeitgeber jahrelang diese Zustände der Pflege zugemutet haben, darf jetzt nicht als Grund aufgeführt werden, die längst überfällige Besserstellung der Pflege hinauszuschieben.
Wie könnte man dann ohne Unterversorgung die Lage der Pflege verbessern? Der „Pflexit“ aus der Pflege hat vor 5 Jahren begonnen: Pflegekräfte wechseln in die Wirtschaft und Industrie, weil dort die Bedingungen und die Bezahlung fairer sind. Die #PflegeComeBack-Studie (November 2018) hat gezeigt, dass viele ehemalige Pflegekräfte zurückkehren würden, wenn die Konditionen nur stimmen würden. Die Lösung des Pflegenotstandes liegt also auf der Hand: Menschenwürdige Personalschlüssel und faire Tarifverträge – nicht bloß Pflegemindestlohn oder Betriebsvereinbarungen.
In Thüringen ist in der Pflegelandschaft sehr kritisch zu betrachten, es viel zu wenige Einrichtungen mit tariflicher Bindung: Dadurch konnten sich die Rahmenbedingungen nach und nach deutlich verschlechtern. Anstelle davon, den Pflegeberuf attraktiver zu machen, ziehen viele Arbeitgeber es eher vor, ausländische Fachkräfte zu rekrutieren und deren Qualifikationen – einschl. Sprachkenntnisse – hier anerkennen zu lassen: die Provision pro Kopf liegt bei etwa 10.000 €. Nur: Viele sind wirklich nicht ausreichend qualifiziert, und bleiben nicht lange – und viele, die gut qualifiziert sind, wollen nicht in die ostdeutsche Provinz, sondern zu den westdeutschen Großstädten. Auf ausländische Pflegefachkräfte werden wir nicht verzichten können, aber sie sind keinen Ersatz für die erforderliche gründliche Reform der Beschäftigungsbedingungen in der Pflege.
Bei einem Flächentarifvertrag Pflege mit einer fairen Bezahlung, einem guten Pflegeschlüssel, familienfreundlicheren Arbeitszeiten und attraktiven Weiterqualifizierungsmöglichkeiten wären mehr Pflegekräfte auf dem Markt, und der Wettbewerbsnachteil der Altenpflege gegenüber den Krankenhäusern würde wegfallen. Außerdem hätten die Pflegekräfte dann mehr Zeit und Kraft, sich um das Wohlergehen der alten Menschen zu kümmern, also nicht bloß „satt und sauber“.
Ihre Birgit Green, 10.07.2019